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15 km – Radius: Ver­fas­sungs­juristen zwei­feln an Rege­lung für Corona-Hots­pots

Verfassungsrecht und öffentliche Gesundheitsversorgung in der Pandemie

NTG24 - 15 km – Radius: Ver­fas­sungs­juristen zwei­feln an Rege­lung für Corona-Hots­pots

 

Die weiterhin hoher Corona-Infektionszahlen sind die Basis der jüngsten Entscheidung des Bundes und der Länder, die Bewegungsfreiheit der Bundesbürger weiter einzuschränken. Neu ist unter anderem ein begrenzter Bewegungsradius für Menschen, die in Corona-Hotspots leben. Nach Informationen der ,,Legal Tribune Online‘‘ (LTO) von heute sehen Staats- und Verfassungsrechtler diese Maßnahme kritisch.

Ziel der schärferen Einschränkungen für die Bundesbürger ist es, die Zahl der Infektionen mit dem Virus zu senken. Bundeskanzlerin Merkel und die Regierungschefs der Länder einigten sich gestern auf eine Verlängerung der ursprünglich bis zum 10. Januar vereinbarten Lockdown-Regeln bis zum Monatsende.

Zudem sollen künftig Treffen nur noch mit einer Person, die nicht zum eigenen Haushalt gehört, möglich sein. Die Länder sollen außerdem für Kreise, in denen sich binnen sieben Tagen mehr als 200 Menschen pro 100.000 Einwohner neu infiziert haben, den Bewegungsradius der Bürger auf 15 Kilometer um den Wohnort herum begrenzen. Staats- und Verfassungsrechtler äußerten gegenüber LTO verfassungsrechtliche Bedenken hinsichtlich dieser Maßnahme. 

Wie das Robert-Koch-Institut heute mitteilte, haben die Gesundheitsämter 21.237 Corona-Neuinfektionen binnen eines Tages gemeldet. Außerdem wurden 1.019 neue Todesfälle im Zusammenhang mit dem Virus innerhalb von 24 Stunden verzeichnet.

Eine Interpretation der Daten bleibt schwierig, weil um Weihnachten und den Jahreswechsel Corona-Fälle laut RKI verzögert entdeckt, erfasst und übermittelt wurden. Es wurde deutlich weniger getestet. Das RKI geht davon aus, dass die Daten frühestens Ende nächster Woche bzw. Anfang übernächster Woche wieder belastbar sind, wie es auf Anfrage hieß.  

 

Begrenzter Bewegungsradius in Hotspots

 

Kurz nach den Beschlüssen vom Dienstag zeichnet sich allerdings bereits ab, dass einige Bundesländer von diesen wohl abweichen werden. So will Niedersachsen die Beschränkung der Bewegungsfreiheit in Hotspots nicht ohne Weiteres umsetzen. Nötig sei eine gesonderte Begründung zur Verhältnismäßigkeit, wie sie das Oberverwaltungsgericht bereits bei anderen Einschränkungen angemahnt habe, sagte Ministerpräsident Stephan Weil. ,,Das ist für uns Teil des Prüfprogramms, ob und wann die Regelung zur Anwendung kommt, am liebsten gar nicht.“

In Deutschland gibt es einen eingeschränkten Bewegungsradius bereits in Sachsen, wo die Zahl der Neuinfektionen in den vergangenen drei Monaten stark angestiegen war. Hier dürfen sich die Bürger maximal 15 Kilometer von ihrem Wohnort entfernen, etwa um Sport zu treiben oder zum Einkauf. Ähnlich betroffen wie Sachsen ist auch Thüringen von der Pandemie. Doch dort gibt es zunächst keine Verpflichtung für die Bürger, ihren Bewegungsradius auf 15 Kilometer um ihren Wohnort einzuschränken, sondern nur eine entsprechende Empfehlung.

Die Unterschiede zwischen den Bundesländern bei der Zahl der binnen sieben Tagen an die Gesundheitsämter gemeldeten Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner (Sieben-Tage-Inzidenz) sind enorm. Bundesweit lag diese Mittwochmorgen bei 127,3. Die höchsten Inzidenzen hatten am Dienstag Sachsen mit 262,1 und Thüringen mit 244,6. Den niedrigsten Wert hatte Bremen mit 73,7. 

 

Verstoß gegen Gleichheits- und Bestimmtheitsgrundsatz?

 

Der Deutsche Städte- und Gemeindebund zweifelt an der Umsetzbarkeit der Maßnahme des eingeschränkten Bewegungsradius.

,,Klar ist, dass in Gebieten mit sehr hohen Inzidenzen zusätzliche Maßnahmen ergriffen werden müssen“, sagte Hauptgeschäftsführer Gerd Landsberg der Rheinischen Post vom Mittwoch. Ein solch eingeschränkter Bewegungsradius sei allerdings kaum kontrollierbar und es sei zudem fraglich, ob er letztlich durch die vielen Ausnahmen Wirkung entfalten werde.

Anzeige:

Werbebanner Zürcher BörsenbriefeDer Göttinger Verfassungsrechtler Prof. Dr. Alexander Thiele hält die Regelung auch in Hinblick auf den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit und den Gleichheitssatz für bedenklich. Es sei ,,völlig unklar, inwiefern sich die Regelung als pauschal geeignet und als das relativ mildeste Mittel zur Eindämmung der Pandemie erweist“, so Thiele gegenüber LTO. Zudem sei die Situation auf dem Land und in der Stadt völlig unterschiedlich. ,,Da der Wohnort zählt, ergibt sich in Berlin praktisch keine Beschränkung, in weitläufigen ländlichen Gebieten sind dagegen schon bestimmte Supermärkte nicht mehr erreichbar“, gab Thiele zu bedenken.

Verfassungsrechtliche Zweifel an der geplanten Regelung äußerte gegenüber LTO auch der emeritierte Staats- und Verfassungsrechtler Prof. Dr. Ulrich Battis. Bedenken ergeben sich laut ihm im Hinblick auf den Bestimmtheits – und den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, da das Verbot in der Praxis wohl kaum vollzieh- bzw. durchsetzbar sei. 

 

Zustimmung von Ärztevertretern

 

Der Präsident der Bundesärztekammer, Klaus Reinhardt, bezeichnete hingegen die Einschränkung des Bewegungsradius an Orten mit vielen Corona-Neuinfektionen im Gegensatz zu den Juristen als ,,sinnvolle Vorsichtsmaßnahme“. ,,Wir müssen die Infektionsdynamik verringern, um unser Gesundheitswesen vor Überlastung zu schützen“, sagte Reinhardt der Deutschen Presse-Agentur. Die Versorgung in den deutschen Kliniken und Praxen müsse voll aufrechterhalten werden. Das sei nicht nur für die vielen schwer an Covid-19 erkrankten Menschen essenziell – ,,sondern auch für alle anderen behandlungsbedürftigen Patientinnen und Patienten in Deutschland“, stellte Reinhardt klar.

Auch die Ärztegewerkschaft Marburger Bund begrüßte die verschärften Corona-Beschlüsse: ,,Es ist richtig, die Bremse weiter anzuziehen. Der Bund-Länder-Beschluss ist deshalb nur konsequent“, sagte die Vorsitzende, Susanne Johna, der Rheinischen Post vom Mittwoch.

 

Fazit

 

Der Handlungsdruck der Pandemie auf die Politik ist groß, ebenso allerdings auch die Verantwortung der Politiker, das hohe Gut ,,Vertrauen in den Rechtsstaat‘‘ aktiv zu wahren. Bei den immer sichtbarer werdenden rechtlichen, sozialen und ökonomischen ,,Kollateralschäden‘‘ der Lockdown-Maßnahmen, welche zum Teil erst nach er Bundestagswahl anfallen dürften, muss die Rechtfertigung von Politik immer zusammen mit einer Akzeptanzprognose gestellt werden, will der Staat keine Eskalation riskieren. Da hilft auch ein Verweis auf Infektionsstatistiken nicht.

Diese Akzeptanz findet aus individueller Sicht ihre Basis in einer Verhältnismäßigkeitsprüfung, deren Komplement aus staatsrechtlicher Sicht die individuell garantierten Grundrechte darstellen, welche durch das Prinzip des effektiven Rechtsschutzes verbunden sind. Dies ist eine potenzielle Sollbruchstelle der Politik, welche derzeit nur geringe Beachtung findet! Medizinisches Risikomanagement entbindet die Politik eben nicht von der Rückbindung ihrer Politik an das Recht!

Dies könnte aber noch höhere Bedeutung gewinnen, wenn eine medizinische Lösung in Form einer nebenwirkungsarmen wirksamen Impfung durch Mutationen des Coronavirus unwahrscheinlicher wird.

 

06.01.2021 - Arndt Kümpel - ak@ntg24.de

 

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