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Wirecard: Ende des Drahtseilakts

Suche nach 25 % der Bilanzsumme

NTG24 - Wirecard: Ende des Drahtseilakts

 

Auch wenn man es kaum glauben mag:  

Ihrem schlichtweg desaströsen administrativen und kommunikativen Auftreten in der Darlegung ihrer realen bilanziellen Geschäftsverhältnisse und damit auch dem Umgang mit den vermeintlichen FT-Phantasieberichten aus dem Januar und Oktober 2019, der nur widerwilligen Bestellung von KPMG als Bilanzsonderprüfer im Februar 2020, dem vorauseilenden Schönreden des schließlich deutlich negativeren KPMG-Prüfberichts im April 2020, der reaktionslosen Begleitung der seit Mai/Juni 2020 laufenden aufsichtsrechtlichen BAFIN- und Staatsanwaltschafts-Untersuchungen gegen den Konzernvorstand und schließlich auch noch der bisherigen 3maligen Publikationsverschiebung der 2019er Jahresabschlussvorlage hat die Geschäftsführung von WIRECARD (DE0007472060) gestern eine weitere, nun möglicherweise ultimative Krone aufgesetzt. 

Denn nicht nur wurde die für gestern angesetzte Veröffentlichung des Jahresabschlusses 2019 um ein weiteres 4. Mal verschoben. Nein, es musste auch - entgegen allen bisherigen Unschulds- und Verschwörungsbeteuerungen des Konzernvorstands - erstmals das Auftauchen einer finanziellen Lücke von nicht weniger als 1,9 Mrd. Euro oder rd. 25 % der aktuellen Bilanzsumme eingeräumt werden, die der Testierung und Veröffentlichung des Jahresabschlusses 2019 weiterhin im Wege steht. 

Bei diesen fehlenden und derzeit händeringend gesuchten Aktiva über 1,9 Mrd. Euro handelt es sich konkret über laut dem angestammten Wirtschaftsprüfer EY bislang nicht testierungsfähige Treuhandguthaben bei 2 asiatischen Banken, deren Saldenmitteilungen EY aufgrund fehlender Kontenzuordnungsfähigkeit bis jetzt nicht verifizieren konnte und diese in Übereinstimmung mit dem Wirecard-Vorstand daher als mutmaßlich betrügerisch und erneut “verschwörerisch gegen den Gesamtkonzern” deklarierte. 

Nur verliert jede noch so gebetsmühlenartig wiederholte “Verschwörungstheorie” gegen den Gesamtkonzern und einen scheinbar hiergegen völlig hilflos ausgelieferten Vorstand irgendwann einmal (und gerade bei einem aufgetauchten “Loch” von 25 % der Bilanzsumme) jegliche Glaubwürdigkeit und Nachsicht bei den Investoren. 

Und so war es für uns überfällig und schon nahezu absehbar, dass sich unser bereits am 06.05. ausgerufenes Aktienkursziel von 45 EURO im Umfeld eines offenbar zunehmenden Kontroll- und Kommunikationsversagens der Geschäftsführung über kurz oder lang hoch wahrscheinlich einstellen würde. Mit dem gestrigen Tag eines gar 65 %-igen Aktiencrashs auf nur noch 36 EURO ist dies nunmehr Realität geworden. 

Wie die gestrige weitere Hiobsbotschaft des Wirecard-Konzerns inhaltlich einzuordnen ist, und welche weiteren Aktienperspektiven sich hieraus ergeben, werden wir im Folgenden erörtern. 

 

Chart: WIRECARD gegen MSCI WORLD EURO – Index 

 

Chart: Wirecard gegen MSCI World-Index

 

Inhaltliche Einordnung gestriger Bilanznachricht 

 

Selbst auch die gestrige Nachricht des ungeklärten asiatischen Treuhandkonten-Guthabens von rd. 1,9 Mrd. Euro ist für uns durchaus nicht verwunderlich, wenn man sich insbesondere - was wir für einen nicht zu vernachlässigenden Aspekt im Rahmen des gesamten Bilanz-/Finanz-Konstrukts von Wirecard halten - einmal die verantwortliche Rolle des angestammten “Haus und Hof”-Wirtschaftsprüfers EY (ehemals Ernst & Young) für die Prüfungen aller zurückliegenden letztjährigen Wirecard-Bilanzen und die hierin selbstverständlich auch jederzeitige enge prozessuale Abstimmung mit dem Konzernvorstand von Wirecard in Prüfungsfragen vergegenwärtigt. 

Zunächst ist natürlich festzuhalten, dass für die Prüfung der Jahresabschlüsse 2016 – 2018, die laut FT-Reports im Januar und Oktober 2019 angeblich fingierte, zurückdatierte oder frei erfundene Vertragsumsätze vor allem mit Verbuchung in Singapur, Dubai und Dublin enthielten (auch wenn dies zumindest für den Standort Singapur bis heute fast völlig entkräftet wurde), niemand anderes als EY verantwortlich war, die bis zum Hochkommen der genannten FT-Reports jeden Wirecard-Jahresabschluss anstandslos testiert hatten.     

Erste Fragwürdigkeiten über die Rolle von EY in diesen Prüfungsprozessen sind jedoch aus unserer Sicht spätestens entstanden, seit im April das Gutachten des - vom Wirecard-Vorstand auch nur widerwillig auf massiven Druck von Investoren, Analysten und Aktionärsschutzverbänden eingesetzten - Sonderprüfers KPMG zu den Bilanzen 2016 – 2018 sinngemäß das vernichtende Urteil fällte, “es könnte nicht gesagt werden, dass die Bilanzierungen unkorrekt seien, es könnte aber auch nicht gesagt werden, dass sie korrekt seien, da KPMG für ein stichhaltiges Urteil wichtige Unterlagen vor allem zu Umsatzverbuchungen von/bei ausländischen Wirecard-Partnerfirmen fehlten und es in dieser Frage in der Kooperationsbereitschaft dieser Partnerfirmen wie auch der Wirecard-Geschäftsführung Defizite gegeben habe.”  

Nur hinterfragen wir an dieser Stelle: Wer hätte denn KPMG zu ihrer Prüfung eigentlich am lückenlosesten alle Dokumente, selbst auch aller ausländischen Partnerfirmen, liefern können bzw. müssen, nachdem die Konzernbilanzen 2016 – 2018 ja durch EY uneingeschränkt testiert wurden, und sich jede Sonderprüfung von KPMG und weitere Recherchen bei den Partnerunternehmen eigentlich komplett hätten verbieten müssen? Doch wohl am ehesten und selbstverständlichsten EY selbst! 

Darüber hinaus - und hier schließt sich in unseren Augen der Kreis - gab aber KMPG in seinem zurückliegenden Sondergutachten vom April 2020 außerdem bereits ebenfalls an, es hätte innerhalb der Bilanzen 2016 – 2018 keinerlei ausreichende Nachweise über ein angeblich schon damals vorhandenes (und natürlich ebenfalls im Rahmen der laufenden Bilanzprüfung von EY zu verifizierendes) Treuhandkontoguthaben von 1,0 Mrd. EURO gegeben! 

Dass daraufhin Wirecard und EY gestern gemeinsam ausführen, trotz eines seit Anfang 2019 bestellten und in Treuhandverwaltungen erfahrenen neuen asiatischen Treuhänders, trotz Führung dieser Treuhandkonten bei zwei asiatischen Investment Grade-Banken und trotz (erst jetzt offenbar unter Druck des KPMG-Gutachtens) erweiterter 2019er Bilanzprüfungen durch EY würde das ungeklärte Treuhandguthaben aktuell 1,9 Mrd. Euro betragen und wäre offenbar auf betrügerische und “verschwörerische” Saldenmitteilungen entweder des (erfahrenen) asiatischen Treuhänders oder der (renommierten) Treuhandbanken zurückzuführen, klingt für uns daher doch schon eher wie ein wenig überzeugendes “Pfeifen im Wald”. Hier muss man sich wohl fragen, ob und mit welchem Ergebnis denn nicht auch EY zumindest sofort der nachträglichen Feststellung einer Treuhandguthabens-Lücke von 1,0 Mrd. Euro durch KPMG in seiner Verantwortung für die Testierung der Bilanzen von 2016 – 2018 aufklärend nachgegangen ist. 

                          

Finanzielle und rechtliche Konsequenzen der gestrigen Meldung 

 

Am gravierendsten ist ohne Frage zu werten, dass bei Nichtabgabe eines Testats für die 2019er Bilanz durch EY bis zum 19.06. (was mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit eintreten dürfte) Finanzierungsbanken von Wirecard umgehend aktuelle Kreditlinien von rd. 2 Mrd. Euro fällig stellen dürften.  

Per Ende des zuletzt testierten 3. Quartals 2019 publizierte Wirecard jedoch nur eine bestehende Nettocash-Position von 2,3 Mrd. Euro, von der nun auch noch das bilanziell derzeit in Wirklichkeit nicht testierungsfähige Treuhandkontoguthaben von 1,9 Mrd. Euro abzuziehen ist, womit dann also nur noch 0,4 Mrd. Euro an effektiver Nettoliquidität im Wirecard-Konzern verbleiben würden. 

Würden also nun Kreditlinien von 2 Mrd. Euro ab dem 20.06. fällig gestellt, würde Wirecard schlagartig ein gewaltiges Liquiditätsproblem bekommen. 

Doch selbst auch ohne diese nun drohenden Kreditkündigungen ist nach der Meldung des ungeklärten Treuhandguthabens von 1,9 Mrd. Euro mit absoluter Sicherheit von dem z.B. von Moody’s avisierten Downgrading der Kreditwürdigkeit von Wirecard auf den sog. Non Investment Grade- / Junk-Status (= Ratings schlechter als BBB- bzw. Baa3) auszugehen, was auch generell die Kreditaufnahmemöglichkeiten des Konzerns künftig weiter auf einen Schlag verschlechtern wird. 

Von rechtlicher Seite kündigte zudem die BAFIN-Aufsicht bereits an, dass sie die gestrige in ihrer Massivität unerwartet negative, weitere Ad Hoc-Meldung des Wirecard-Vorstands natürlich auch in alle weiteren laufenden Untersuchungen gegen den Vorstand wegen Anhaltspunkten von Publikationsverstößen und Betreibens aktiver Aktienkursmanipulation mit einbeziehen werde. 

Ebenso droht nach Angaben der Deutsche Börse AG nach der 4. Verschiebung der Vorlage des Jahresberichts 2019 Wirecard nun die Einleitung eines börsenrechtlichen Sanktionsverfahrens, was ggfs. auch den kompletten Ausschluss der Wirecard-Aktie aus dem gesamten Prime Standard-Segment (= gesamte DAX-Teilindizes) nach sich ziehen kann. In diesem Fall würde die Wirecard-Aktie dann zwangsweise nur noch im CDAX- bzw. Prime All Share-Index notiert. 

Und schließlich ist natürlich nach der weiteren katastrophalen Unternehmensmeldung auch abzuwarten, wie die führenden Großaktionäre künftig mit ihren Beständen in der Wirecard-Aktie verfahren werden, wobei es allein die führenden 7 (angeführt von der Deutschen Bank mit 7,3 %) schon zusammen auf knapp 27 % des gesamten Wirecard-Aktienkapitals bringen. 

 

Anlageurteil der Wirecard-Aktie 

 

Nach der Bekanntgabe eines derzeit bilanziell nicht verifizier- und testierbaren, vermeintlichen Treuhandguthabens von 1,9 Mrd. Euro (= 25 % der Bilanzsumme) werden auf Wirecard die gravierendsten finanziellen und rechtlichen Konsequenzen hieraus vermutlich nun erst noch zukommen. 

In diesem Umfeld, in der aktuell der Vorstand jegliche Unterstützung (und möglicherweise auch Fähigkeit) vermissen lässt, eine lückenlose Aufklärung über die gegenwärtige reale Geschäftslage des Konzerns herbeizuführen, entzieht sich die Wirecard-Aktie nun mittlerweile praktisch jeglicher seriösen analytischen Bewertbarkeit, so dass wir auch weiterhin nahezu jegliche künftige weitere Kurskorrektur nach unten für denkbar halten. 

Wir werden die Aktie daher vorläufig mit keinerlei weiterer möglichen Kurszielangabe versehen und stufen den Titel derzeit (ebenso wie auch die künftige Kreditwürdigkeit des Konzerns) generell als “Non Investment Grade” ein.

 

19.06.2020 - Matthias Reiner - mr@ntg24.de

 

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  • Brettschneider - 19.06.2020 16:23:33 Uhr


 

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