BFH konkretisiert Anforderungen an Schätzungen bei mangelhafter Kassenführung:
BFH-Urteil vom 29.07.2025 (X R 23-24/21)
Fehler in der Kassenführung führen regelmäßig zu Schätzungen der Besteuerungsgrundlagen – insbesondere in bargeldintensiven Branchen wie der Gastronomie. Im Urteil vom 29.07.2025 (veröffentlicht am 13.11.2025) hatte der BFH über einen Fall zu entscheiden, in dem ein Gastronomiebetrieb über Jahre hinweg eine nicht ordnungsgemäß dokumentierende elektronische Kasse nutzte. Während die Schätzungsbefugnis unstreitig war, lag der Schwerpunkt der Entscheidung auf der Frage, wie eine Schätzung methodisch vorzunehmen ist und welche Begründungsanforderungen gelten. Der BFH nutzte die Gelegenheit, seine Linie zur Richtsatzschätzung zu präzisieren und deutlich strengere Maßstäbe für die Begründung griffweiser Zuschläge und Abschläge zu formulieren.
Der konkrete Fall: Ein Gastronomiebetrieb mit strukturellen Kassenproblemen
Der Kläger betrieb seit 2008 ein Restaurant, das vollständig über eine ältere EDV-Kasse lief. Klar ist: Diese Kasse war nicht manipulationssicher, schon weil sie aus einem Vorgängersystem übernommen worden war, dessen Organisationsunterlagen nicht mehr vorhanden waren. Die beiden eingesetzten Geschäftsführer führten das Tagesgeschäft; der Inhaber selbst hatte kaum Einblick in das Kassensystem.
Wesentliche Mängel traten bei den Tagesabschlüssen auf:
- Es gab keine fortlaufende Nummerierung.
- Uhrzeiten fehlten vollständig.
- Es war unklar, ob pro Tag ein einziger oder mehrere Abschlüsse erstellt wurden.
- Stornos wurden vom System zwar zugelassen, aber nicht ausgewiesen.
- Auch Inventuren fehlten zu jedem Bilanzstichtag.
Die Betriebsprüfung sah hierin gravierende formelle Mängel, die die Kassenführung insgesamt infrage stellten. Materielle Fehler – also konkrete Hinweise auf nicht erfasste Einnahmen – konnten zwar nicht nachgewiesen werden, doch das ist für die Schätzungsbefugnis unerheblich. Schon der fehlende Stornoausweis reicht nach ständiger BFH-Rechtsprechung aus, um die Buchführung als nicht ordnungsgemäß zu verwerfen.
Dies führte zu erheblichen Hinzuschätzungen:
+16,21 % der erklärten Erlöse in 2011
+9,92 % in 2012
+13,02 % in 2013
Der Kläger hielt diese Zuschläge für deutlich überhöht und verwies auf eine neu angeschaffte fiskalisierte Kasse ab Ende 2016, deren Ergebnisse das Bild der Vorjahre bestätigten. Zudem seien die Besonderheiten seines Betriebs – hochwertiger Wareneinkauf, Personalverpflegung, hohe Abfallquote – nicht berücksichtigt worden.
Schätzungsbefugnis dem Grunde nach: BFH bestätigt die Verwaltung
Der BFH folgt dem Finanzgericht und bejaht die Schätzungsbefugnis eindeutig. Der fehlende Ausweis von Stornierungen ist ein struktureller Mangel, der nicht heilbar ist. Gerade in einem bargeldintensiven Betrieb kann ohne Stornoausweis nicht mehr gewährleistet werden, dass alle Einnahmen erfasst wurden. Ob das Kassensystem darüber hinaus weitergehende Manipulationsmöglichkeiten bot, ist unerheblich; die Schätzungsbefugnis steht bereits aufgrund des Storno-Mangels fest.
Damit bestätigt der BFH seine restriktive Linie gegenüber formellen Buchführungsmängeln: Die Ordnungsmäßigkeit der Kassenführung ist ein „Alles-oder-nichts“-Kriterium. Ist die Kasse formell nicht ordnungsgemäß, ist die gesamte Buchführung nicht mehr als Grundlage der Besteuerung geeignet.
Schätzung der Höhe nach: Methodenwahl und Begründung stehen im Mittelpunkt
Während der BFH die Schätzungsbefugnis bejaht, scheitert das Urteil des FG bei der Schätzung in der Höhe.
Fehler 1: Verwendung der Richtsatzsammlung ohne ausreichende Begründung
Finanzamt und FG wählten den untersten Rohgewinnaufschlag von 186 % aus der amtlichen Richtsatzsammlung und minderten diesen um 30 %. Dieser pauschale Abschlag sollte betriebliche Besonderheiten abbilden.
Der BFH sieht hierin eine griffweise Schätzung, die nicht ausreichend begründet wurde. Das Gericht verlangt, dass nachvollziehbar dargelegt wird, warum gerade 30 % angemessen seien. Ohne konkrete Begründung sei die Schätzung nicht überprüfbar – ein revisionsrechtlicher Fehler.
Fehler 2: Ausschluss genauerer Methoden ohne tragfähige Gründe
Das FG hatte einen inneren Betriebsvergleich abgelehnt, weil Portionsgrößen, Abfallquote und Personalverpflegung schwankten. Nach Auffassung des BFH sind solche Gegebenheiten jedoch kein Grund, eine Nachkalkulation vollständig auszuschließen. Vielmehr können solche Variablen in der Kalkulation berücksichtigt werden.
Auch der Einwand, in den Folgejahren hätten sich Preise und Kosten verändert, trägt nicht. Der BFH stellt klar, dass Preissteigerungen rechnerisch korrigiert und auf die Streitjahre zurückgerechnet werden können. Gerade eine innerbetriebliche Kalkulation sei realistischer als der Rückgriff auf branchenweite Richtsätze.
Neue Akzente des BFH: Richtsatzsammlung zunehmend kritisch betrachtet
Der BFH betont in diesem Urteil erneut, dass erhebliche Zweifel an der Belastbarkeit der amtlichen Richtsätze bestehen. Diese seien intransparenter Herkunft, berücksichtigten regionale Besonderheiten nicht und seien nur bedingt geeignet, den tatsächlichen Betriebsablauf eines individuellen Unternehmens abzubilden.
Damit verstärkt der BFH seine Linie: Richtsätze sind zulässig, aber nur als nachrangige Schätzungsgrundlage – und nur dann, wenn genauere Methoden ausscheiden.
Folgen für die Praxis
Das Urteil zeigt drei wesentliche Handlungslinien für Berater und Betriebe:
1. Kassenführung fehlerfrei halten:
Selbst einfache formelle Mängel berechtigen zur Vollschätzung – unabhängig davon, ob Manipulationen vorliegen.
2. Schätzungen kritisch prüfen:
Schätzungen müssen begründet, plausibel und schlüssig sein. Pauschale Abschläge reichen nicht.
3. Innere Betriebsvergleiche bevorzugen:
Hat der Betrieb stabile Daten, sollten diese methodisch eingebunden werden; dies muss auch von den Finanzbehörden berücksichtigt werden.
19.11.2025 - Daniel Eilenbrock

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